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Kann man seine Muttersprache verlernen?

2. Mai 2017

“Dit is mijn nieuwe thuis.”

Luuk B. ist vor 19 Jahren, gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester Fleur, aus den Niederlanden nach Deutschland immigriert. Die nachfolgenden Informationen stammen aus seinem Blog.

Nachdem seine Eltern von mehreren Nachbarn inständig darum gebeten worden waren, doch bitte Deutsch zu sprechen, wenn sie schon in dem Land lebten, und sie dann auch noch auf Grund ihrer Sprachbarriere von einem Elternabend ausgeschlossen worden waren, beschlossen Herr und Frau B., fortan nur noch Deutsch mit ihren Kindern zu sprechen.

Die Entscheidung war ihnen nicht leicht gefallen, aber sie wollten sich, und vor allem ihre Kinder, um jeden Preis in die deutsche Gesellschaft integrieren. Schon aus seiner Kindheit wusste Herr B., wie schlimm es für einen heranwachsenden Menschen sein konnte, von einer Kommune ausgeschlossen zu werden. Er war mit einer Gehbehinderung auf die Welt gekommen und daher ständig den übelsten Hänseleien ausgesetzt gewesen. Frau B. war von vornherein dagegen, die niederländische Sprache ganz aufzugeben. Immerhin hatten Luuk und Fleur 6 und 14 Jahre lang Niederländisch, und bisweilen Englisch, gesprochen. Und nun sollte dieser Teil einfach aus ihrem Leben gestrichen werden?

Die Umstellung fiel der Familie sichtlich schwer. Der Sprachkurs von Herrn B. ging nur sehr schleppend voran und Frau B. konnte sich die Vokabeln, die sie regelmäßig in der Marginalie ihrer deutschsprachigen Abendlektüre notierte, einfach nicht merken. Sie habe den Klang der deutschen Sprache einfach nicht gemocht. Dennoch – wenn die Kinder zu Hause waren – wurde ausschließlich Deutsch gesprochen, oder zumindest „eine Sprache, die der deutschen sehr ähnlich war“.

Fleur hatte massive Probleme in der Schule. Die siebte Klasse musste sie wiederholen und durch die Klausuren kämpfte sie sich mit Ach-und-Krach und der Hilfe einer Nachhilfelehrerin. Zuhause rutschten ihr dennoch immer wieder niederländische Wörter heraus, insbesondere, wenn sie es eilig hatte, oder es um die Kommunikation von Banalitäten ging, wie etwa „Ich gehe in den Keller.“ (nl. Ik ga in de kelder.). Luuk hingegen fiel die sprachliche Umstellung wesentlich leichter. Nach kurzer Zeit war er in der Lage, grammatisch korrekte deutsche Sätze zu bilden, und die Vokabeln „flogen“ ihm quasi von alleine zu. Rasch lernte er deutsche Freunde kennen, die weder Niederländisch, noch besonders gut Englisch sprachen, und lernte quasi mit jedem Fußballspiel ein paar neue deutsche Wörter dazu.

Heute ist Luuk 25 und studiert Germanistik und Geschichte auf Lehramt im vierten Semester. Mit der deutschen Sprache komme er hervorragend zurecht. Es fühle sich nicht mehr an wie eine Fremdsprache; es sei seine Muttersprache geworden. Seine Mutter hatte ihre deutsche Lektüre damals schon nach wenigen Monaten aufgegeben. Ihre permanenten Grammatikfehler hätten Luuk in seinem Sprachlernprozess jedoch nicht behindert, sondern vielmehr unterstützt. Wann immer sie einen Fehler machte, verbesserte er sie an Ort und Stelle. Und das kam sehr häufig vor. Das Deutsch seines Vaters sei trotz des Sprachkurses, den er bis zur Niveaustufe B2 durchgezogen hatte, heute noch gebrochen. Auch den starken niederländischen Akzent konnten seine Eltern bis heute nicht ablegen. Niederländisch sprechen beide bis heute fließend, wenn auch auf einem relativ niedrigen Niveau.

Fleur war es vor allem durch den Schulunterricht anders ergangen. Ihre niederländischen Sprachkenntnisse hatten sich mit den Jahren in einen flüssigen deutschen Wortschatz verwandelt, der ihren Alltag zu dominieren begann. Im Alter von 18 Jahren störte sie der Umstand, dass ihr ihre Muttersprache entglitt, jedoch so sehr, dass sie sogar leicht depressiv wurde. Schließlich entschied sie sich dazu, regelmäßig zu ihren Verwandten und Freunden in die Niederlande zu fahren, um die Sprache noch einmal aufzufrischen. Heute ist sie eine bilinguale Rechtsanwaltsfachangestellte.

Luuk hätte seine Muttersprache schlichtweg verlernt, schreibt er. Es sei schleichend gekommen. Zunehmend hätten sich im Alltag deutsche Phrasen gegenüber niederländischen durchgesetzt und hätten diese schließlich ganz ersetzt. Wenn man ihn heute fragen würde, was „Notizbuch“ auf Niederländisch heiße, könne er höchstens mit den Schultern zucken. Stören tue ihn das jedoch nicht. Manchmal vergesse er sogar, wo seine Wurzeln eigentlich liegen. Erst wenn jemand fragte, woher der außergewöhnliche Name stamme, denke er an sein Heimatland. Emotional tangiere ihn der Umstand allerdings wenig. Heimweh, wie das seiner Schwester, oder bisweilen auch seiner Eltern, kenne er nicht. „Dit is mijn nieuwe thuis”, schreibt er.

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